Kurzgeschichte – Der Brief

Bügeln ist langweilig. Um diese lästige Pflicht etwas angenehmer zu gestalten, schalte ich den Fernseher ein. Eine Talkshow! Eigentlich mag ich keine Talkshows, aber dieses Thema interessiert mich. Wo bist du? Bei dieser Sendung geht es darum, Familienmitglieder wiederzufinden! Es ist ganz einfach. Man schreibt an die Redaktion, übermittelt die vorhandenen Daten und wenn man Glück hat, schließt man nach kurzer Zeit den so schmerzlich vermissten Menschen in die Arme.

Das hört sich an wie ein Märchen und es ist auch eines. Denn um wieviel anders sieht die Realität aus, zumindest aus meiner Sicht, ganz besonders aber aus Christians Sicht. Christian ist mein Mann, wir sind seit vielen Jahren verheiratet und mit unserem Leben zufrieden. Eigentlich fehlt es uns an nichts, außer vielleicht an den erwähnten Verwandten, die meinem Mann nicht überglücklich um den Hals fielen, als sie die Gelegenheit dazu gehabt hätten.

Meine Gedanken wandern unwillkürlich weit zurück in die Vergangenheit. Damals, in diesem ganz besonderen Jahr,wollten wir heiraten. In dieser Zeit gab es für uns nichts Aufregenderes, als unsere neue Wohnung einzurichten. Eines Tages, es war Mitte Mai und schon frühlingshaft warm, schlenderten wir wieder einmal durch die riesigen Hallen eines Möbelgeschäftes. Nach Stunden steuerten wir schließlich das hauseigene Restaurant an. Es war sehr voll, nur an einem Tisch war noch Platz. Ein älteres Ehepaar saß dort. Wir setzten uns dazu, doch bald darauf fühlten wir uns unbehaglich. Die Frau starrte uns regelrecht an. Ich wurde verlegen, schaute angelegentlich zuerst Christian, dann mich selber an ob irgendwelcher Kleiderfehler, konnte aber nichts Besonderes entdecken.

„Entschuldigen Sie, darf ich Sie etwas fragen?“, platzte die Frau plötzlich heraus. Sie wurde selber rot bei ihren Worten, schaute uns aber weiterhin unverwandt an. „Ja natürlich“, erwiderte Christian, der sich angesprochen fühlte. Die Frau warf ihrem Mann einen unsicheren Blick zu. „Was hast du denn?“ murmelte er unbehaglich. „Sieh doch, wie ähnlich er ihm sieht“, sprudelte sie hervor: „Kennen Sie vielleicht einen gewissen Christian Mitterbauer?“

Christian warf mir einen hilfesuchenden Blick zu, dann antwortete er langsam, fast widerwillig: „Äh, na ja, als ich ein Kind war, hieß ich Christian Mitterbauer.Aber mit zwölf Jahren wurde ich adoptiert, seitdem heiße ich …“

„Also, das ist ja unglaublich“, rief sie freudestrahlend aus, „du bist unser Neffe.“ Einige Leute an den Nachbartischen drehten sich um, bei ihren heftig hervorgestoßenen Worten. „Ja“, wiederholte sie noch einmal, leiser diesmal, aber mit glücklichem Gesicht, „du bist tatsächlich unser Neffe.“ Und dann erzählte sie von Christians unglaublicher Ähnlichkeit mit seinem Bruder, von seiner Halbschwester, die zwei Kinder hatte, vom frühen Tod seiner Mutter, vom Leben des Vaters – soweit bekannt – und von den Großeltern mütterlicherseits, den einzigen, mit denen sie und ihr Mann Kontakt hatten. Die Worte der sympathischen Frau schlugen ein, wie eine Bombe. Wir saßen da wie verstörte Kinder, ließen diese Erzählflut an uns vorüberrauschen, betäubt, voller Staunen. Aber auch freudig erregt, dass Christians Herkunft, die bis jetzt in einem sprachlosen Dunkel gelegen hatte, plötzlich ans Licht kam. Als Christians Tante Maria uns spontan für das kommende Wochenende einlud, sie und ihren Mann zu besuchen, nickte ich freudig. Christians leibliche Großeltern hatten sich angesagt. „Die werden Augen machen“, freute sich die Frau.

Den Fernseher habe ich längst ausgemacht, denn was ich da gesehen habe, macht mich nur wütend. Diese rührenden Auftritte der Gesuchten, die Umarmungen, ungezählte Tränen, die fließen, und schließlich das Versprechen, sich nie wieder aus den Augen zu verlieren. Und alle sind glücklich – von wegen! Nachdenklich rühre ich den Kuchen für Christians Geburtstag. Er hat am gleichen Tag Geburtstag wie seine früh verstorbene Mutter, die ihn, das mittlere von drei Kindern, als kleinen Buben einfach hergab, verschenkte. Heute Morgen ist ein Brief gekommen. An Christian adressiert. Ich drehe und wende den Brief hin und her. Abgestempelt ist er in Neumarkt am Wallersee. Ich erinnere mich daran, dass Christians Großeltern damals dort wohnten.

Mit gemischten Gefühlen fuhren wir an jenem Wochenende zu unseren neuen Verwandten. Mein Mann war dagegen. „Wenn die etwas von mir wollen, sollen sie doch zu mir kommen, warum soll ich denen nachlaufen?“ murmelte er ein ums andere Mal. Es kostete mich alle Überredungskunst, ihn davon abzuhalten, wieder umzudrehen und nach Hause zurückzufahren. „Woher sollen deine Großeltern wissen, wo du wohnst? Wenn ein Kind adoptiert wird, weiß niemand in der Familie, wohin das Kind kommt. Und du erfährst endlich, was damals passiert ist, deine Großeltern werden überglücklich sein, dich kennenzulernen.“ Christian schüttelte den Kopf, sagte aber nichts mehr.

Das Häuschen, in dem Onkel und Tante wohnten, lag nahe an der Westbahn. Blitzsauber, mit hellblauem Anstrich, weißen Fensterläden und einladend gefliestem Hauseingang. Unschlüssig blieben wir vor dem Haus stehen. „Kehren wir um“, raunte Christian mir zu, „ich habe ein ungutes Gefühl.“ In diesem Moment wurde die Tür geöffnet und Christians Onkel Georg begrüßte uns freudig. Er führte uns in die Küche. Die Tante hatte den Tisch festlich gedeckt und strahlte Christian an. „Deine Großeltern sind noch bei unseren Nachbarn, aber sie werden gleich rüberkommen. Die werden Augen machen.“„Wissen sie von mir?“ Fragte Christian mit rauer Stimme, gleichzeitig hoffnungsvoll, wie ein Kind. „Nein, nein, wir haben es ihnen nicht gesagt“, entgegnete die Tante. „Ich bin schon sehr gespannt“, fügte sie lächelnd hinzu. Für sie war es selbstverständlich, dass Christian mit offenen Armen empfangen werden würde.

Kurz darauf stand ein Mann, groß und breit wie ein Kleiderschrank, in der Küchentür und musterte meinen Mann. Er wusste Bescheid! Herrische abschätzende Augen ruhten auf Christian. „So, so, du bist also der Christian“, stieß er plötzlich hervor. Sieht so ein Großvater aus? dachte ich entsetzt. Ich wünschte uns auf einmal weit weg von diesem Ort. Der Blick mit dem er Christian musterte, erschien mir herausfordernd, wütend, auf keinen Fall erfreut. Hinter ihm, fast verborgen stand eine kleine zierliche Frau, die kein Wort sagte. In ihren verhangenen Augen aber lagen Fragen, die sie nicht auszusprechen wagte. Wir setzten uns an den Tisch. „Erzähl was von dir“, sagte der Mann unvermittelt und Christian fing hastig an zu reden, um keine peinliche Stille aufkommen zu lassen. „Ich wohne übrigens gar nicht weit von hier“, meinte Christian abschließend. In seiner Stimme schwang leise Hoffnung mit.

„Ja, das weiß ich!“ Entgegnete Christians Großvater unverfroren. Von diesem Augenblick an, hasste ich ihn. Dann wandte er sich abrupt an Onkel und Tante. „Wir müssen jetzt nach Hause, ich habe noch einen wichtigen Termin.“ Der Abschied war kurz aber schmerzlich. Christians Großmutter hatte Tränen in den Augen und drückte ihm stumm die Hand. Dann war der Spuk vorbei. Zurück blieben Onkel und Tante, die vor Verlegenheit hochrot im Gesicht waren, so hatten sie sich das Wiedersehen bestimmt nicht vorgestellt. Gleich darauf fuhren wir nach Hause. Nie wieder haben wir etwas von diesen Leuten gehört.

Christian kommt heim, die Kinder und ich erwarten ihn im Wohnzimmer mit der Geburtstagstorte. Aber mir ist nicht nach Feiern zumute, denn ich weiß, was Christian an diesem Tag so unruhig macht. Die Fahrt nach Traunkirchen zum Grab seiner leiblichen Mutter. Die Tante hatte ihm damals erzählt, wo sie beerdigt worden war. „Ein Brief ist für dich angekommen“, sage ich, „abgestempelt in Neumarkt am Wallersee. Lange Zeit ist es still im Arbeitszimmer. Als Christian endlich herauskommt, glänzen seine Augen. Er gibt mir den Brief. Christians Großmutter hat ihm geschrieben, jetzt da ihr Mann gestorben ist. Der Brief ist eine einzige unbeholfene Entschuldigung, mit der Bitte, sie doch so bald als möglich zu besuchen. „Ich habe es gewusst“, sagt mein Mann mit erstickter Stimme. „Die Augen dieser Frau waren gut, weißt du noch?“„Ja“, sage ich und nicke, „du hast recht.“ Mit Wehmut denke ich daran, dass Märchen immer gut ausgehen. Nur manchmal dauert es eben etwas länger.