Kurzgeschichte – Eine geschäftliche Transaktion

„Du darfst niemals Angst haben“, sagte Großmutter stets, „Angst behindert dich, hemmt dich und nimmt dir die Lebensfreude.“

Ich habe ihr niemals meine Angst vor Moritz gestanden. Moritz wohnte in Großmutters Scheune, umgeben von seinem Harem, wie ein türkischer Pascha in meinem Buch aus Tausend und einer Nacht. Dabei beneidete ich ihn, denn niemand forderte etwas von ihm. Ich hatte nicht so viel Glück, denn mein Vater war der Meinung, ich sei mit meinen zehn Jahren alt genug, um mein Taschengeld selber zu verdienen.

„Bei Großmutter zu wohnen, heißt nicht, den ganzen Sommer zu faulenzen“, predigte er, „du bist alt genug um Verantwortung zu übernehmen.“

Er sagte absichtlich nicht „groß genug“, denn ich war klein. Diese Tatsache wurde bei uns zu Hause niemals erwähnt, aber einmal im Jahr kam unser Hausarzt Dr. Winkler an unsere Schule, spähte in die Ohren, in den Hals, untersuchte unsere Füße, Hände, Schultern, Bauch, einfach alles. Natürlich wurden wir auch gewogen und abgemessen. Neben Dr. Winkler stand jedes Mal Fräulein Winzig, seine Sprechstundenhilfe, die jede Bemerkung von Dr. Winkler sofort notierte und in eine Liste eintrug. Sobald ich an der Reihe war, bemerkte er jedes Mal wieder mit bedauernder Miene und einem mitleidigen Lächeln: „Er ist zu klein für sein Alter.“ Oh, wie ich diesen Mann hasste.

Vater meinte mit „Verantwortung übernehmen“, ich könnte doch bei den umliegenden Bauern aushelfen, wenn die zweite Heuernte bevorstand. Ich nickte bereitwillig, um meinen Vater zu beruhigen, hatte aber keineswegs vor, schwitzend auf einer Fuhre Heu zu sitzen und mich von den Pferdebremsen piesacken zu lassen. Deshalb ließ ich mir etwas anderes einfallen um Geld zu verdienen, etwas, wie ich fand Geniales. Leider war mein Vater, wie so oft, anderer Meinung.

In jenem Sommer hatte ich mich also wieder einmal bei meiner Großmutter einquartiert, die abseits von den paar anderen Bauernhäusern noch ein Stück weiter oben wohnte. Hehenberg nennt sich der Ort im oberösterreichischen Hausruckviertel und wie der Name bereits sagt, stand ihr Haus auf einem Berg, freilich auf keinem Großen.

Wenn ich von der Landstraße rechts abbog, war ich in einer Stunde bei ihr. Schnaufend zwar, denn ich hatte es immer eilig und der Fußweg führte steil geradewegs bergauf, aber rundherum glücklich.

Mein Vater besaß bereits einen eigenen Wagen, einen lindgrünen Cortina. Aber zu jener Zeit fuhr man seine Kinder nicht zum Spaß herum, wenn sie gerade so gut zu Fuß gehen konnten. Außerdem waren meine Eltern immer in Eile, denn sie vermieteten Zimmer an deutsche Urlauber und wussten oft nicht, wo ihnen der Kopf stand. Das war nichts für mich, ich liebte die Ruhe und Beschaulichkeit bei meiner Großmutter.

Morgens um fünf allerdings war es mit Schlafen vorbei, denn Moritz, Großmutters prächtiger Hahn, hielt auf Pünktlichkeit. Anstatt auf dem Misthaufen stolzierte er vor meinem Schlafzimmerfenster auf und ab und krähte aus voller Kehle, wie ein Korporal beim Morgenappell. Dabei schüttelte er sein prächtiges rot schillerndes Gefieder. Doch mit ihm war nicht zu spaßen, denn er spürte meine Angst und so manches Mal, wenn ich nicht aufpasste, marschierte er auf mich zu. Immer seitwärts, ein untrügliches Zeichen dafür, dass er es mit mir aufnehmen wollte. Sobald er jedoch Großmutter bemerkte, fing er an, harmlos im Boden zu scharren und zu picken. Dabei wusste ich aber, dass seine Abneigung mir gegenüber durchaus ernst gemeint war. Einmal als ich nicht aufgepasst hatte und mich bückte, war er mir, heftig mit den Flügeln schlagend, ins Genick gesprungen.

Großmutters Haus war für mich eine Fundgrube von unschätzbaren Dingen, die niemand mehr gebrauchen konnte, außer mir natürlich. Der Kuhstall war seit langer Zeit leer, das heißt ohne Kühe, aber mein Vater, ein gelernter Tischler, hatte sich eine kleine Werkstatt darin eingerichtet, auf die er sehr stolz war.

Die rechte Seite von Großmutters Haus war aus Holz gezimmert, die linke Seite aus dicken kürbisgroßen Steinen gemauert. Knollenbegonien mit riesigen gelben, roten und lila Blüten reihten sich zu beiden Seiten der Haustür die Hauswand entlang. Gleich anschließend führte ein Wiesenweg zum nahegelegenen Fichtenwald, wo Florian, mein bester Freund und ich stundenlang umherstreiften. Wir waren somit unerreichbar, sowohl für Moritz, der seine Hühnerschar niemals in den Wald führte, als auch für jeden anderen, der eventuell etwas von uns wollte.

Der Sommer und damit die schöne Ferienzeit neigte sich bereits dem Ende zu, als wir eines schönen Tages den Steinbruch entdeckten. Eigentlich war es kein Steinbruch im üblichen Sinn, sondern vielmehr eine mysteriöse Vertiefung an einer steilen Schlucht mitten im Wald. Oftmals waren wir an dieser Schlucht vorbeigekommen und hatten auf die gegenüberliegende Seite geschaut, ohne dass uns etwas Besonderes aufgefallen wäre, das sich lohnte, entdeckt zu werden. Doch an jenem Tag war alles anders.

Florian war abrupt stehen geblieben. „Ja, was haben wir denn da?“ rief er plötzlich und zeigte aufgeregt auf die gegenüberliegende Seite. „Ich sehe nichts“, entgegnete ich und kniff die Augen zusammen. Zwischen den Bäumen hatten sich schräge Sonnenstrahlen durchs Geäst gedrängt und beleuchteten das, gegenüber der Schlucht liegende, steil aufragende Waldstück. Da, tatsächlich, zwischen Brombeerstauden, abgefaulten Baumstümpfen und haufenweise abgebrochenen Ästen, leuchtete etwas geheimnisvoll auf. Und dieses Etwas musste erforscht werden. Auf jeden Fall! Ich war hellauf begeistert und suchte mit den Augen nach einem möglichen Abstieg.

„Nie im Leben kommen wir da heil hinunter“, sagte Flori und seufzte. „Lassen wir es lieber bleiben.“

„Angsthase“, schleuderte ich ihm entgegen, „was soll da schon groß passieren. „Jetzt komm schon!“

Zögernd folgte er mir ein paar Schritte. Sein Gesicht sprach Bände, aber ich war nicht mehr aufzuhalten. Der Gedanke an den Schatz, der garantiert auf uns wartete, ließ mich alle Angst vergessen. Mühsam kletterten wir am Rand der Schlucht den steilen Abhang hinunter. Das geheimnisvolle Licht war nicht mehr zu sehen, doch ich hatte mir die Stelle eingeprägt. Unten angekommen, standen wir schnaufend da und betrachteten die vor uns aufragende Wand. Ich kletterte ein Stück hinauf, wobei ich mich an Wurzeln und Sträuchern festkrallte. Ein kurzer Blick zurück zeigte mir, dass Flori wie angewurzelt dastand und zu mir hinaufstarrte. „Mach endlich“, keuchte ich, „wenn ich so groß wäre wie du …“

„Ja warte, ich komm ja schon“, rief Flori ergeben und gleich darauf kletterte er hinter mir her. Wir mussten höllisch aufpassen. Einerseits bestand immer die Gefahr, dass wir auf dem Geröll ausrutschten und in die Tiefe stürzten, andererseits zerkratzten uns die Brombeer- und Himbeerstauden Hände und Füße. Verschwitzt und mit klopfendem Herzen erreichte ich endlich einen Felsvorsprung. Hinter mir hörte ich Flo schnaufen wie eine Dampflok. Sein rotes Gesicht tauchte neben mir auf und gemeinsam warteten wir darauf, dass sich unser rasender Herzschlag beruhigte. Ich weiß nicht mehr, wer von uns zuerst die längliche Felsspalte entdeckte, versteckt hinter einer Baumwurzel. Auf allen Vieren robbten wir darauf zu und betrachteten das Loch.  Endlich zog ich meine Taschenlampe aus der Hosentasche und leuchtete ins Dunkel. Eine Höhle wurde sichtbar. Was immer wir auch erwartet hatten, das jedenfalls übertraf all unsere Erwartungen.

„Das müssen Hundert oder noch mehr sein, Franzi“, flüsterte Flori andächtig, „was meinst denn du?“

„He, mindestens“, murmelte ich und schaute begeistert auf den Schatz, den meine Taschenlampe anstrahlte. Ich hatte noch niemals so viele prächtige Steine auf einmal gesehen. Einige von ihnen, die am Eingang der Höhle lagen, glitzerten wie Diamanten, als die Sonne durchs Geäst blinzelte.

„Ich glaub, das sind Bergkristalle oder so“, wisperte mir Flori ins Ohr, als ob er durch ein lautes Geräusch den Zauber, der uns gefangen hielt, zerstören könnte.

Ich nickte. „Zieh dein Hemd aus, wir brauchen etwas zum Tragen“, sagte ich und fing sogleich an, mein eigenes Hemd aufzuknöpfen. Drei Knöpfe waren bei dem Abenteuer bereits abgesprungen, die restlichen zwei hatte ich im Nu auf. Ich steckte mir die Taschenlampe in den Mund und zwängte mich durch den schmalen Spalt hindurch tiefer in die Höhle hinein. Im Inneren war es angenehm kühl und ich setzte mich auf. Meine Taschenlampe erhellte jeden Winkel der Höhle und leuchtete jedes Mal auf, wenn der Strahl auf einen der geheimnisvollen Steine traf. Hastig zwängte ich die Taschenlampe zwischen zwei Steine, um meine Hände frei zu haben.

Vorsichtig, als könnten sie zerbrechen, befreite ich die schönsten Steine von Schmutz und Staub und legte sie auf mein Hemd. Flori schaute mir vom Eingang der Höhle aus skeptisch zu.

„Mach schon, ich brauche dein Hemd!“ sagte ich ungeduldig. Mein eigenes Hemd sah mittlerweile aus wie ein Putzlappen aus Großmutters unterster Schublade.

„Ich weiß nicht recht“, meinte Flori und zog die Schultern hoch. „Meine Mutter wird schimpfen.“

„Ach was“, entgegnete ich, „wir können die Hemden ja nachher waschen oder so.“ Einigermaßen beruhigt zog er ebenfalls sein Hemd aus und kroch zu mir in die Höhle. Stein um Stein buddelten wir aus und schlichteten sie auf unsere Hemden. Dann knüpften wir zwei Bündel daraus und zwängten uns durch den Spalt wieder ins Freie. Nach kurzer Beratung warfen wir unseren Schatz in die Tiefe. Hurtig kletterten wir hinterher und schleppten die Bündel nach Hause.

Hinter Großmutters Haus leerten wir die Steine auf einen Haufen und begutachteten sie ehrfürchtig. Einige der Steine sahen aus wie gezackte Berge im Miniformat. Andere sahen tatsächlich Bergkristallen ähnlich.

„Weißt du was, Flori? Wir verkaufen die Steine“, sagte ich und war von meiner Idee total begeistert. Denn ich erinnerte mich plötzlich an die Ermahnung meines Vaters, nicht nur zu faulenzen, sondern bei den Bauern mein Taschengeld zu verdienen. Gab es etwas Schöneres, als Geld zu verdienen, ohne schwitzend auf einer Fuhre Heu sitzen zu müssen? Der Gedanke war verlockend und Flori war sofort einverstanden. Er brauchte auch dringend etwas Geld, um seine Schulden beim Steiner Willy zu begleichen.

Unser Plan war Folgender: Zuerst wollten wir die Steine waschen, dann nach ihrer Größe sortieren und schließlich polieren. Ich war überzeugt davon, in Großmutters Küche geeignete Utensilien zu finden. Und als Krönung sozusagen hatten wir vor, einige unscheinbarere Steine zu bemalen, um sie ebenfalls ins rechte Licht zu rücken. Ich sah mich bereits mit einer randvollen Brieftasche, im unbeirrbaren Glauben, dass die Leute im Dorf uns die Steine aus der Hand reißen würden. Sofort rannte ich ins Haus und stöberte in sämtlichen Laden. Bepackt mit Eimer, Seife, Geschirrtüchern und einer Flasche Poliermittel aus Großmutters Küchenschublade, dazu meine Wachsmalkreiden und das Etui mit den Wasserfarben, kehrte ich zu Flori zurück. Wir arbeiteten hart, gönnten uns keine Pause und dann war es endlich soweit. Ich holte Großmutters Eierkorb aus ihrem Vorratsschrank und Florian legte die Steine liebevoll und andächtig hinein. Doch am Abend dieses denkwürdigen Tages war uns klar, dass unser Schatz ein dankbareres Publikum brauchte. Die Leute im Dorf schüttelten nur verwundert den Kopf, als wir unsere Ware anboten.

Einzig Großmutter meinte mit liebevollem Lächeln: „Na gib mir halt so einen Stein, aber sag, wozu kann man den gebrauchen?“

Typisch Großmutter, ich liebte sie von Herzen, wie sie so dastand mit der unvermeidlichen schwarzen Schürze und dem Haarknoten, von dem ich wusste, dass der geöffnete Zopf bis zu ihren Hüften baumelte. Bei ihr fühlte ich mich geborgen, sie war für mich der Inbegriff meines Lebens. Aber sie war halt keine Frau von Welt!

„Als Briefbeschwerer natürlich“, sagte ich überlegen. Ich hatte erst vor kurzem in einem Buch gelesen, dass es so etwas gab. Was war praktischer zu diesem Zweck als ein Stein, der von Natur aus schwer ist.

„Ah, so, ja, ja, ich verstehe“, sagte sie. Dann beugte sie sich über den Korb und nahm einen von den Steinen, die ich bemalt hatte. Stolz und glücklich schaute ich zu, wie sie ihn auf den Küchenschrank legte. Sie kramte in ihrer Schürze und gab mir fünf Schilling. “So viel Fleiß muss belohnt werden“, meinte sie. „Hoffentlich denke ich an den Stein, wenn ich das nächste Mal einen Brief bekomme.“

„Versuchen wir´s doch unten an der Landstrasse“, bemerkte Flori später in meinem Zimmer. Die Idee war genial, wie ich zugeben musste. Sogleich versanken wir in nachdenkliches Schweigen. Wo bekam man die Zutaten für einen Verkaufsladen her? Denn es war klar, dass wir die Steine kunstvoll und mit Preisschildchen versehen präsentieren wollten und nicht etwa in Großmutters ausgeleiertem Eierkorb.

Plötzlich dachte ich an Vaters Werkstatt. Ich wusste seit einiger Zeit, wo der Schlüssel lag. Einmal hatte ich meinen Vater beobachtet, wie er eine lose Diele aufgehoben hatte und, nach allen Seiten sichernd wie eine Katzenmutter, die ins Versteck ihrer Jungen schleicht, den Schlüssel hervorgeholt hatte.

Am nächsten Morgen wartete ich ungeduldig auf Großmutters täglichen Kirchgang. Ich stand noch vor ihr auf und machte das Frühstück. Großmutter wunderte sich zwar über meinen unerwarteten Eifer, verlor aber kein Wort darüber, sondern schickte sich an, aus dem Haus zu gehen. Vom Küchenfenster aus konnte ich sie noch sehen, als ich bereits Richtung Werkstatt rannte.

Bewundernd strich ich über das Fichtenholz, das bereits abgerichtet, gehobelt und aufgestapelt vor mir lag. Perfekt! Flori stürzte zur Tür herein und sogleich hallte die Werkstatt wider vom Klang zweier Hämmer. Ich hatte mir das Ganze leichter vorgestellt, aber wir benötigten eine volle Tüte Nägel um das, nach rechts geneigte, Gebilde zusammenzuhalten.

„Und dein Vater hat sicher nichts dagegen?“ Flori hielt kurz inne, wischte sich den Schweiß vom schmalen Gesicht und schaute zweifelnd drein.

„Nein, der merkt das gar nicht, wir ziehen die Nägel nachher wieder heraus, die paar Löcher sieht der nie im Leben.“ Ich war der geborene Optimist.

Flori war einverstanden und zuckte mit den Schultern, ein Zeichen dafür, dass er mir die Verantwortung für unser Projekt übergeben hatte. Mit neuem Elan hämmerte er weiter. Großmutters Schubkarre diente als Transportmittel, und solcherart mit Verkaufsladen und Steinen beladen machten wir uns auf den beschwerlichen Weg, hinunter ins Tal.

Wohlweislich schoben wir die Karre unten an der Landstraße bis zur nächsten Kurve, um nicht von Großmutter, oder gar meinem Vater zufällig gesehen zu werden.

Bis zum Nachmittag hatten wir tatsächlich den Großteil der Steine verkauft. Auf dieser Strecke waren viele Urlauber unterwegs, etliche blieben stehen und bewunderten uns beide fast noch mehr als unsere Steine. Wir müssen tatsächlich lustig ausgesehen haben, beide mit einer kurzen Lederhose angetan, dazu jeder ein kariertes Hemd, Flori blond gelockt, ich mit meinem dunkelbraunen, dichten Haarschopf. Von den meisten Leuten bekamen wir mehr Geld, als an unserer Preistafel veranschlagt.

Wieder blieb ein Wagen stehen und ein großgewachsener Mann kam auf uns zu. Zuerst betrachtete er unsere Steine, dann plötzlich faselte er etwas von einer Erlaubnis und fragte nach unserer Adresse. Blitzschnell räumten wir das Feld, ließen alles stehen und liegen und machten uns schleunigst aus dem Staub. In meinem Zimmer zählten wir das verdiente Geld und teilten redlich. So viel hätte ich bei den Bauern nie gekriegt, sagte ich gerade zu Flori, als ein Wagen vor dem Haus stehenblieb. Ich spähte hinunter.

„Mein Vater“, sagte ich und drehte mich zu Flori um, „was macht der denn hier?“

„Dreimal darfst du raten“, presste Flori hervor. Augenblicklich sprang mein mutiger Freund auf, stürzte auf das geöffnete Fenster zu, schwang sich hinaus und kletterte wie der Blitz den Birnbaum hinunter.

In Großmutters Stube vernahm ich laute Stimmen. Mit klopfendem Herzen schlich ich die Holztreppe hinunter und lauschte am unteren Treppenende. Vater sprach so wütend und laut, dass ich jedes Wort hörte. „Dieser vermaledeite Lausbub“, schimpfte er, „wenn ich den erwische.“ Ich zog den Kopf zwischen die Schultern. „Hast du gewusst, dass die zwei Rotzbuben an der Landstraße unten Steine verkauft haben?“ Dann war es eine Weile still. Großmutter studierte wahrscheinlich unsere Preisliste, die der Fremde uns weggenommen hatte und, wie ich mich jetzt mit Schrecken erinnerte, auf der auch meine Adresse aufgemalt war.

„Ah, jetzt verstehe ich …“ hörte ich sie sagen.

„Na dann ist es ja gut, wenn du verstehst, ich verstehe das allerdings nicht“, polterte mein Vater. „Wie sind sie nur auf diese Schnapsidee gekommen? Und wer kauft überhaupt Steine? Jedenfalls steht eine Anzeige ins Haus. Keinen Schilling zahl ich davon.“

„Du hast ja nie Zeit für den Buben!“ Typisch Großmutter, sie wusste, wie sie meinem Vater den Wind aus den Segeln nehmen konnte. „Und du wolltest doch, dass er Geld verdient. Sei doch froh, dass er so geschäftstüchtig ist. Außerdem“, sagte sie so leise, dass ich die Ohren spitzen musste, „ist der Bub erwachsen geworden diesen Sommer.“

Vaters Antwort hörte ich nicht mehr, so sehr rauschte das Blut in meinen Ohren. Ich stürzte hinauf in mein Zimmer, riss meinen Kleiderschrank auf und wühlte nach meiner einzigen langen Hose, die mir noch zu Sommerbeginn gepasst hatte. Sie endete zwischen Knie und Wade.

Und wie ich so dastand und an mir hinunterstarrte, fühlte ich plötzlich keine Angst mehr. Moritz konnte mich nicht mehr erschrecken und auch Vaters Standpauke würde ich überstehen. Meine erste geschäftliche Transaktion war zwar nicht von Erfolg gekrönt, aber dafür war ich endlich erwachsen.

Schätzungsweise zehn, wenn nicht sogar fünfzehn Zentimeter.